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ERICH SEEBERG
Meister Eckhart
I. Leteinische und deutsche Schriften
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Die Frage nach der Art der Arbeit Meister Eckharts möchte ich an Hand einer kurzen Beschreibung der kleinen Schrift beantworten, die ich für die große deutsche Edition fertiggemacht habe. Ich meine die Erklärung des Vaterunsers. Eckhart selbst gibt diese Auslegung, indem er eine Menge von "Ansichten" der Kirchenväter zu der betreffenden Stelle vorlegt, wobei er sich nicht einmal für die eine oder andere entscheidet. Er verfährt also eklektisch und führt die Namen der Autoritäten treulich auf, die er benutzt. Was er aber nicht sagt, ist dies, daß er seine Autoritäten und seine Gelehrsamkeit nicht aus sich selbst hat, sondern aus der berühmten catena aurea des Thomas von Aquino zu den Evangelien. Dort findet sich alles, was Eckhart bringt, und zwar so schülerhaft getreu, daß man gelegentlich den Text der catena aurea benutzen kann, um falsch Überliefertes oder Entstelltes in den Handschriften von dorther zu rekonstruieren [10]. Hier erscheint er also als Compilator; und das um so mehr, als er nicht bloß diese Schrift des Thomas von Aquino, welche die Auslegung durch eine Reihe von Väterzitaten gibt, abschreibt, sondern als er anscheinend auch noch zwei andere Werke direkt benutzt hat, nämlich das opus imperfectum des Pseudo-Chrysostomus in Matthaeum, und die collationes des Cassian, in denen er die Weisheiten des Abtes Isaak bevorzugt. Wir müssen es uns also so vorstellen, daß Eckhart seine Auslegung zum Vaterunser schrieb, indem er etwa drei Schriften neben sich hatte und aus diesen seinen Text herstellte.
Das geschieht in einer Jugendschrift; denn diese Erklärung des Pater noster mag die früheste Schrift Meister Eckharts sein. Sie zeigt ihn also in schülerhafter Abhängigkeit von Thomas von Aquino. Aber auch in seinem Alterswerk, dem Kommentar zum Johannesevangelium, scheint die Benutzung der catena aurea eine erhebliche Rolle zu spielen [11]. Und das ist für den Charakter der lateinischen Schriften des Meisters überhaupt nicht ohne Bedeutung.
Daran schließt sich nun aber eine andere Frage: Ist das immer so geblieben? Oder können wir eine Entwicklung des Meisters konstatieren?
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