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FRIEDRICH HEER
From Eckhart, Predigten und Schriften, ausgewaehlt und eingeleitet von Fr. Heer, Frankfurt/M-Hamburg 1956
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Meister Eckharts prekäre innere und äußere Lage kann von den späteren eingefrorenen und erstarrten kirchlichen Positionen her gar nicht verstanden werden. Er ist als Dominikaner in der Frühzeit seines Ordens Angehöriger der revolutionären Intelligenz Europas, einer Intelligenz, die, wahrhaft maßlos und unersättlich, im Sturm ihres Optimismus und jugendlichen Elans alle Weisheit der Welt und aller Zeiten hereinbergen wollte in die allkommunizierende Weite einer Katholizität. Und er, Meister Eckhart, ist als Seelsorger der deutschen monastischen Frauenbewegung (er predigt in Köln nicht nur vor Dominikanerinnen, sondern auch vor Zisterzienserinnen und Benediktinerinnen) mitten hineingestellt in den großen Strom, in die Flut der oben kurz angesprochenen Frömmigkeitsbewegung, die sich in tausend Gruppen, Heimen, Kreisen, Klöstern einhaust, am Rande und in der Mitte der "Mauerkirchen", der großen Ruinen der alten Heilanstalten des "Heiligen Reiches" und der Großkirche. Diese Menschen - es sind breite Gruppen von Männern, Frauen und Kindern, die durchaus "rechtgläubig", katholisch, orthodox bleiben wollen, ja der Überzeugung sind, Herzkern der Einen Kirche zu sein - leben unter dreifachem Druck: von außen her, von Weltklerus, Bischöfen, Inquisitoren wirkt der Druck ständiger Denunziationsgefahr: Sagen sie nicht "dasselbe" wie ihre links - und rechts - radikalen Brüder und Schwestern? Bekennen sie sich nicht, wie diese, zum Inneren Reich, zur Begegnung und Vermählung mit Gott im eigenen Herzen, unter Verachtung der "äußeren" Kirchen und Reiche? Zum zweiten wirkt die Gefahr, tatsächlich infiziert zu werden von ihren rechts- und linksradikalen Brüdern, die zur Ablehnung der "Mauerkirche" vorwärtsschreiten getrieben nicht selten von schweren leidvollen, persönlichen Lebenserfahrungen. Zum dritten ist es die Versuchung durch das eigene Anliegen, die eigene Seelennot und Gewissensnot, die Versuchung auch, weitgehende Konsequenzen zu ziehen, in der Not und im Überschwang des neuen Wissens, des neu erwecten Gewissens. Wo eine Grenze ziehen? Wo vorerst eine Grenze finden? - Es hätte einer behutsamen, wahrhaft aufgeklärten generationenlangen Betreuung dieser Mensehen bedurft, um sorgfältig zu scheiden und zu unterscheiden zwischen legitimen Anliegen und falschen Antworten, Katholiken und Ketzern, Christen und Gnostikern, Theisten und Pantheisten, nicht zuletzt zwischen leibseelisch Kranken und gesunden Elementen in der Einen großen Bewegung. Das ist nicht geschehen. So wurde die deutsche Mystik als das Phänomen der Mitte zwischen 1250 und 1350 hineingezogen in den Prozeß der Unterdrückung, der Verdrängung, der Denunzierung und des Untergangs. Der dreifache Druck, der auf diesen Menschen der "Mitte" liegt, überträgt sich auf ihren Prediger, auf den Mann, der sie herausführen will aus den mörderischen Engpässen der Zeit und Zeitlichkeit. Eckhart ist, als Prediger und als Denker, von hier aus zu verstehen. Im Sog ihrer Angst, bedrängt durch ihre Seelen - und Geistesnot wagt er das Abenteuer seines Geistesflugs, wagt er "bewußt den Gang am Abgrund", wie es ihm einer seiner treuesten katholischen Freunde heute, Otto Karrer, bestätigt.
Friedrich Heer on European Mysticism - Eckhart, Tauler and Suso