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FRIEDRICH HEER
From Eckhart, Predigten und Schriften, ausgewaehlt und eingeleitet von Fr. Heer, Frankfurt/M-Hamburg 1956
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Das dichte Dunkel um diesen Menschen kann einigermaßen erhellt werden, wenn wir seine Zeit besehen: ihre Dunkelheiten und Düsternisse lassen sich in harten klaren Tatsachen und Zahlen umreißen. Der Sohn kleiner thüringischer Adeliger (eine ältere Tradition wollte ihn in Straßburg beheimatet wissen), geboren um 1260, gestorben 1327, lebt in einer Zeit, in der Westeuropa im allgemeinen und weite Teile Deutchlands im besonderen in latentem Bürgerkrieg schweren politischen, wirtschaftlichen und seelischen Erschütterungen preisgegeben waren. Wir glauben heute zu wissen, daß das Wachstumserscheinungen des jungen Europa waren, auf denen die spätere Blüte der Niederlande, der Aufstieg Frankreichs und die großartige Kultur der deutschen Städte wurzeln. Diesen Trost vermochten die Zeitgenossen Eckharts nicht dem offenbaren Untrost ihrer Verhältnisse abzugewinnen. In den Städten Westeuropas - und sie sind der Ort, an dem Eckhart und sein Publikum sich treffen und sich gegenseitig aufladen wie elektrische Speicher - kämpfen Bischöfe, Hochadelige, Patrizier, Großbürger, Zünfte, Handwerker, "Volk" um die Macht über diesen ihren Stadtstaat, der wieder mit vielen anderen Stadtstaaten kämpft und sich gelegentlich verbündet. In Frankreich etwa kommt es zu Erhebungen in Beauvais, Provins, Rouen (1280/81), in Paris 1295 und 1307, in Deutschland setzen Zünfte sich durch in Ulm, Frankfurt, Nürnberg, Mainz, Straßburg, Basel, Köln (die drei letztgenannten Städte sind eng mit Eckharts und seiner Freunde Schicksalen verbunden). In Flandern, das durch Ruysbroek, durch Beghinen und Begarden ein Acker ist, auf dem Eckharts Samen tausendfältig aufgeht, tobt zwischen 1297 und 1328 ein dreißigjähriger Bürgerkrieg zwischen Großbürgern und kleinen Handwerkern.Das "neue Volk", das hier in schwersten Kämpfen zusammenwächst, besiegt den französischen Adel 1302 bei Courtrai; der Weber Conink leistet erfolgreich dem stärksten Fürsten Westeuropas, Philipp dem Schönen, Widerstand, ihm, dem die Päpste nicht gewachsen sind. Mit der Parole "Krieg den Reichen und den Priestern" (so inYpern 1323 und Brügge 1328) ziehen hier die von vulgärmystischen Ideen ergriffenen Massen in den Kampf. Die Kämpfe in Deutschland spielen sich vor einem besonders düsteren Hintergrund ab: Reich und Kirche sind zerrissen. Kaiser und Papst haben sich in einem mörderischen zweihundertjährigen Ringen gegenseitig entmachtet, als heillos erklärt, denunziert und niedergekämpft. Das "Heilige Reich" ist eine Ruine. 1256 bis 1273 (es sind die Jugendjahre Eckharts - jeder Mensch, und besonders der wache, regsame, empfindsame, wird durch seine Kindheit geprägt!) währt "die kaiserlose, die schreckliche Zeit", das Interregnum. Aber auch die Kirche ist eine Ruine: schon zieht das große Schisma herauf, mit seinen sich gegenseitig verdammenden Papsten in Avignon und Rom. Für Eckhart wird, wie für die im Armutsstreit unterliegenden Franziskaner, wie für einige der schärfsten Denker der Christenheit, Avignon zum Schicksal werden. Im Schatten der großen Ruinen des Reiches und der Kirche wachsen kräftig und rücksichtslos kämpfend nach allen Seiten, als kleine Reiche die Städte empor. Gerade in den rheinischen Städten, also in Eckharts Wirkzentren, manifestiert sich ein massiver politischer Widerstand gegen "Rom", gegen die päpstliche Steuerpolitik (1313 in Mainz, 1330 in Köln, 1355 im Rheinischen Kirchenbund), der im Manifest der Kölner Liga 1372 gegen die Kurie gipfeln wird. Diese machtpolitischen Auseinandersetzungen erschweren das Los der vielen Menschen, die nach dem Zusammenbruch des Reiches und auch der Kirchenherrschaft Zuflucht suchen im "inneren Reich". Wenn wir Eckhart, aber auch die vielen "rechten" und "linken" religiösen Nonkonformisten seiner Zeit mit ihrer Ablehnung, zumindest ihrer Zurückhaltung gegenüber der Heilswaltung und Sakramentwaltung der Kirche verstehen wollen, müssen wir wissen, daß diese sehr oft gar nicht mehr "funktionierte". Durch den machtpolitischen Kampf kam es immer öfter vor, daß eine Stadt jahre-, ja jahrzehntelang von ihrem Bischof oder vom Papst mit dem Interdikt belegt wurde: Kult, Sakramentenspendung, also auch Beichte, Buße und Eucharistie, die Lossprechung von den drükkenden Sünden, die in wirrer und härter Zeit naturgemäß besonders schwer empfunden wurden, waren da dem Klerus untersagt. Hundert Jahre bevor Eckhart in Straßburg wirkt, lebt diese Stadt bereits jahrzehntelang im Kirchenbann: da sucht Gottfried von Straßburg in seinem Epos "Tristan und Isolde" dem Bürger einen Ausweg zu zeigen, indem er ihn auf das innere Reich der Liebe, der personhaften Kultivierung der Liebesbeziehung verweist. Im Streit zwischen Kaiser Ludwig dem Bayern und Papst Johann XXII (es ist der Gerichtsherr Eckharts, der 1329 in der Bulle "in agro dominico" 28 Thesen Eckharts verurteilt) leben viele deutsche Städte im Interdikt, im Kirchenbann, so einmal Erfurt drei Jahre, Ulm 14 Jahre, und Frankfurt, später die Heimat der von Eckharts Gedanken tiefbeeinflußten "Theologia Teutsch", 28 Jahre lang. Nun versuchen die Städte zwar, den Klerus in der Stadt zu "ihrem" Klerus zu machen, ihn zur Ausübung des Kults und der Sakramentenspendung zu zwingen, sie vermögen ihm damit aber nicht die Macht zu geben, zu "erbauen", zu trösten, die seelisch und geistig unbetreuten Menschen innerlich zu berühren.
Friedrich Heer on European Mysticism - Eckhart, Tauler and Suso