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R. M. Rilke: Letter to a young poet
From: R. M. Rilke, Letters to a young poet, tr. by Stephen Mitchell
Page 16
Rilke : We don't know ourselves!
From Rilke, Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge / Buy in English
Ich lerne sehen. Ich weiß nicht, woran es liegt, es geht alles tiefer in mich ein und bleibt nicht an der Stelle stehen, wo es sonst immer zu Ende war. Ich habe ein Inneres, von dem ich nicht wußte. Alles geht jetzt dorthin. Ich weiß nicht, was dort geschieht. ....
Ist es möglich, denkt es, daß man noch nichts Wirkliches und Wichtiges gesehen, erkannt und gesagt hat? Ist es möglich, daß man Jahrtausende Zeit gehabt hat, zu schauen, nachzudenken und aufzuzeichnen, und daß man die Jahrtausende hat vergehen lassen wie eine Schulpause, in der man sein Butterbrot ißt und einen Apfel?
Ja, es ist möglich.
Ist es möglich, daß man trotz Erfindungen und Fortschritten, trotz Kultur, Religion und Weltweisheit an der Oberfläche des Lebens geblieben ist? Ist es möglich, daß man sogar diese Oberfläche, die doch immerhin etwas gewesen wäre, mit einem unglaublich langweiligen Stoff überzogen hat, so daß sie aussieht, wie die Salonmöbel in den Sommerferien?
Ja, es ist möglich.
Ist es möglich, daß die ganze Weltgeschichte mißverstanden worden ist? Ist es möglich, daß die Vergangenheit falsch ist, weil man immer von ihren Massen gesprochen hat, gerade, als ob man von einem Zusammenlauf vieler Menschen erzählte, statt von dem Einen zu sagen, um den sie herumstanden, weil er fremd war und starb?
Ja, es ist möglich.
Ist es möglich, daß man glaubte, nachholen zu müssen, was sich ereignet hat, ehe man geboren war? Ist es möglich, daß man jeden einzelnen erinnern müßte, er sei ja aus allen Früheren entstanden, wüßte es also und sollte sich nichts einreden lassen von den anderen, die anderes wüßten?
Ja, es ist möglich.
Ist es möglich, daß alle diese Menschen eine Vergangenheit, die nie gewesen ist, ganz genau kennen? Ist es möglich, daß alle Wirklichkeiten nichts sind für sie; daß ihr Leben abläuft, mit nichts verknüpft, wie eine Uhr in einem leeren Zimmer -?
Ja, es ist möglich.
Ist es möglich, daß man von den Mädchen nichts weiß, die doch leben? Ist es möglich, daß man 'die Frauen' sagt, 'die Kinder', 'die Knaben' und nicht ahnt (bei aller Bildung nicht ahnt), daß diese Worte längst keine Mehrzahl mehr haben, sondern nur unzählige Einzahlen?
Ja, es ist möglich.
Ist es möglich, daß es Leute giebt, welche 'Gott' sagen und meinen, das wäre etwas Gemeinsames? - Und sieh nur zwei Schulkinder: Es kauft sich der eine ein Messer, und sein Nachbar kauft sich ein ganz gleiches am selben Tag. Und sie zeigen einander nach einer Woche die beiden Messer, und es ergiebt sich, daß sie sich nur noch ganz entfernt ähnlich sehen, - so verschieden haben sie sich in verschie denen Händen entwickelt. (Ja, sagt des einen Mutter dazu: wenn ihr auch gleich immer alles abnutzen müßt.-) Ach so: Ist es möglich, zu glauben, man könne einen Gott haben, ohne ihn zu gebrauchen?
Ja, es ist möglich.
Rilke wrote his first letter to a young poet (the original title is "Briefe an einen jungen Dichter") in the February of 1903 and the last one in the December of 1908. He had already written the "Book of Images". Read more... Cf. Plato, Books can be your worst enemies * Jaspers, Truth is in communication * Kierkegaard, My work as an author * Emerson, Reading and writing as self-knowledge * Francis Bacon, Reading & writing as moral activities * Tom Schulman, Dead Poets Society * Gibson - MacRury, The man without a face * J. M. Lefévre, The White Thinking * Dostoevsky, The dream of ridiculous man